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Eine Menge Menschen helfen anderen, um ihrem eigenen Dasein einen Sinn zu geben. Ohne dieses Helfen würden sie sich leer und unnütz fühlen. Sie sind nicht in ihrer Mitte. Ich sehe die Mutter, die verzweifelt und mit Tränen in den Augen ihre abtrünnige neunzehnjährige Tochter anfleht: "Aber ich habe doch immer alles für dich getan!" - nur für sich selbst hat sie zu wenig getan.
Es gibt verschiedene Arten, sein Dasein zu rechtfertigen, wenn man nicht in seiner Mitte ist. Man kann z.B. nach Macht und Ruhm oder materiellem Besitz streben; das machen wir Männer sehr gerne. Oder man kann anderen helfen; das macht mehrheitlich gerne Ihr Frauen. Die letztere Haltung hat im christlichen Abendland die Moral auf ihrer Seite; anderen zu helfen wird als gottesfürchtiges Werk angesehen, motiviert durch Geschichten wie die vom Heiligen Martin, der seinen halben Mantel einem Bettler hergibt, bis zum von Jesus überlieferten Satz: "Liebe deinen Nächsten", wobei man die zweite Hälfte des Satzes geflissentlich weglässt.
Der Drang, anderen Menschen zu helfen, wird oft mit dem Hinweis gerechtfertigt, die Welt sei doch so schlecht und man müsse etwas tun, sie zu verbessern. Einmal darauf gestossen, schaue ich mich in der Welt um und sehe überall nur Menschen in Not, Menschen, die unter Gewalt leiden, Menschen, deren die Menschenwürde weggenommen wird, Menschen, die arm sind, Menschen, die traurig sind, Menschen, die ungerecht behandelt werden. Und dann beginne ich irgendwo zu helfen, aber ich werde zunehmend das Bewusstsein bekommen, dass mein Tun nur ein Tropfen auf den heissen Stein ist. Das Gefühl der Vergeblichkeit stellt sich ein. Kaum lindere ich Not Nr. 1, poppt neben ihr eine Not Nr. 2 auf. Und in diesem Strudel von Nöten habe ich mich am Ende verloren.
Dann sieht es so aus, als ob die Welt ein feindlicher Ort, ein Ort des Bösen wäre, und das Dasein ein Jammertal. Das Wundersame an der Welt ist, dass sie immer genau so aussieht, wie ich sie anschaue. Betrachte ich lange genug das Böse in der Welt, wird die Welt mir grundlegend böse erscheinen. Dies wird gerade im grossen Stil jenseits des Nordatlantiks eingeübt. Wenn ich aber die Welt als Spiegel von uns Menschen ansehe, dann bin ich voller Verwunderung über ihre Güte, uns perfekt zu spiegeln. Dann entdecke ich plötzlich überall das Geschehen der Liebe.
Das moralische Gebot, anderen zu helfen, übt, wie Iris schreibt, Druck auf uns auf: "Du hilfst den anderen zu wenig!". Es ist eines der fiesesten Machtinstrumente, weil es in einem ach so "guten" Gewand daher kommt: es arbeitet mit unserem schlechten Gewissen. Damit will es uns aus unserer Mitte hinauskicken, damit wir gefügige Untertanen werden. Es macht uns unfrei.
Das Gegenbild ist NICHT ein grenzenloser Egoismus, sondern das, was Iris mit Hinweis auf den Bauer, der in den Himmel kam, erzählt. Wenn du in deiner Mitte bist und das, was du tust, mit deinem Herzen tust, dann ist es getragen von Liebe und wird anderen keinen Schaden zufügen, sondern ihnen helfen, ob sie es wissen oder nicht.
Yogananda macht uns mit seinem Satz auf ein grundlegendes Missverständnis aufmerksam, dem insbesondere der christliche Protestantismus Vorschub geleistet hat. Wir glauben an den Satz: "An ihren Werken sollt Ihr sie erkennen!" (Matthäus 7,20; dort heisst es "... an ihren Früchten ..."). Martin Luther propagierte, dass die Erfüllung innerweltlicher Pflichten Gottes Wohlgefallen viel mehr errege als mönchische Askese.
Wenn jemand gute Werke tut, ist er ein guter, gottesfürchtiger Mensch, wenn jemand schlechte Werke tut, ist er des Teufels, und wenn jemand wie ein Yogi, der dauernd nur im Schneidersitz rumsitzt, gar nichts tut, ist er - gar kein Mensch.
Das christlich geprägte Abendland hat die grundlegende Wahrheit vergessen, dass die äussere Welt ein Spiegel unserer Geistigkeit ist. Jemand, der "nur" meditiert, kann deshalb oft mehr bewegen als ein gestresster Grosskonzernmanager mit einem Achtzehnstundentag oder eine liebevolle Altenpflegerin in einem Heim für Demenzkranke. Alle grossen Veränderungen beginnen mit grossen neuen Ideen, also einer Sache des Geistes. Das, was uns als Wirklichkeit der Welt entgegentritt, ist ein Abbild unserer inneren – individuellen oder kollektiven – Bilder. In der Meditation kann ich innere, also geistige Bilder erzeugen, die in unsere Wirklichkeit "durchbrechen" können. Der Glaube KANN Berge versetzen, eine Bombe kann sie nur sprengen.
Zurückweisen müssen wir Yoganandas Spruch, weil er völlig unerleuchtet nur unsere hergebrachte Wertung UMKEHRT: der Heilige, der nur 'rumsitzt und betet, ist nützlicher als der Sozialarbeiter. Vielmehr wird es Zeit, dass wir das ganze Nützlichkeitsdenken unserer kapitalistisch geprägten Welt verlassen. Nicht der nützlichere Mensch ist der bessere Mensch, so wenig wie es der unnütze wäre. Im Grunde gibt es keine "besseren" Menschen.
Nun wirkt der Geist von uns Menschen in seiner bunten grossartigen Vielfältigkeit auf unergründliche Weise zusammen, um diese Wunderbare Welt zu erschaffen. Jeder Mensch hat seinen Ort, von dem aus er in diese Geistigkeit hineinwirkt, durch sein Tun, sein Leiden, sein Denken, sein Fühlen. Und so ist es gut, dass der eine als Arzt auf der Cap Anamur mitfährt, die andere ihr krebskrankes Kind aufopfernd pflegt, der dritte eine Bundesregierung führt, und die vierte Vorstandsvorsitzende des zweitgrössten Computerkonzerns der Welt ist. Und der fünfte sitzt da und meditiert. All dies Tun ist gut.
Ich sehe uns Menschen wie die Töne einer grossangelegten Sinfonie: ein hohes As einer Oboe ist kein schlechterer oder besserer Ton als das tiefe E eines Kontrabasses. Wir brauchen jeden einzelnen Ton, weil die Sinfonie sonst nicht klingt. Jeder Ton für sich wäre aber nichts. Erst im Zusammenklang ergibt sich die Vielfalt des musikalischen Geschehens. Also, wie Carmen sagt: nicht werten. Im Werten leben wir unseren Ego-Trip aus: Seht alle mal her, ich bin ein besserer Mensch, denn ich helfe! Und schon sind wir weg von uns selbst.
Unser Dasein bedarf keiner Rechtfertigung. Wie Viola so schön schrieb: Wir leben in der Gnade, ob wir wollen oder nicht. Wir können aus dieser Gnade nicht herausfallen. Und weil wir in der Gnade sind, sind wir HEIL.
Deshalb wünsche ich euch heile Tage und heilige Nächte.
Euer Florian
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